Stammzellen – Kommunikation als Mittel zur Selbstfindung
Forschungsbericht (importiert) 2022 - Max-Planck-Institut für molekulare Physiologie
Einleitung
Als 1996 das „Klon-Schaf“ Dolly zur Welt kam, war das eine Sensation und ein wissenschaftlicher Meilenstein. Beim Klonen wird der Kern der Eizelle, der alle genetischen Informationen in der DNA enthält, gegen einen Zellkern aus einer reifen Körperzelle eines anderen Lebewesens ausgetauscht. Mit dieser Methode folgten auf Dolly unzählige andere geklonte Tiere. Das eigentliche Wunder dabei ist, dass aus nur wenigen vollkommen identischen Stammzellen eine Vielzahl von Zellen mit unterschiedlichsten Aufgaben - über 200 im Menschen – differenzieren und die späteren Organe und Gewebe bilden, die fast immer gleich aussehen und die gleichen Zellanteile aufweisen.
Doch woher wissen die Zellen eigentlich, was sie werden möchten und wie viele von ihnen das überhaupt dürfen? Wie wird der Aufbau neuer Strukturen ohne einen offensichtlichen Bauplan organisiert? Wir am Max-Planck-Institut für molekulare Physiologie konnten mit Stammzellen im Reagenzglas nun zeigen, dass Zellen keine Einzelkämpfer sind, sondern dass sie vielmehr als Kollektiv arbeiten. In diesem Kollektiv wird durch kontinuierliche Kommunikation das Schicksal jeder einzelnen Zelle so ausgehandelt, dass am Ende jede Aufgabe von einem reproduzierbaren Anteil von Zellen wahrgenommen wird.
Alles nur Zufall?
In welchen Zelltyp sich eine Stammzelle differenziert und welche Aufgaben sie übernimmt, wird vor allem durch das Ein- oder Ausschalten von Genen durch Transkriptionsfaktoren wie NANOG und GATA reguliert. Liegen NANOG und GATA anfänglich noch zusammen vor, ändert sich dies jedoch nach einer der ersten einschneidenden Weichenstellungen, bei der aus dem anfänglichen Zellhaufen zwei verschiedene Zelltypen entstehen. In den Zellen des späteren Fötus kommt im weiteren Entwicklungsverlauf nur noch NANOG vor, die Vorläufer der Fruchtblase wiederum tragen ausschließlich GATA in sich.
Bisher dachte man, dass die Entscheidung eher zufällig fällt, ähnlich wie beim Würfelspiel, je nachdem ob NANOG oder GATA gewürfelt werden. Um das Schicksal der Zellen nicht dem Zufall zu überlassen, haben wir den NANOG-GATA Würfel sozusagen gezinkt: indem wir die Menge an GATA künstlich erhöhten, wurde jetzt häufiger GATA als NANOG „gewürfelt“ [1]. Das Experiment ging auf, der Trick jedoch nicht: Denn selbst wenn nun immer eine Sechs gewürfelt wurde – also GATA –, entstanden weiterhin gleiche Anteile beider Zelltypen. Die Entwicklung einer Stammzelle kann also nicht nur vom reinen Zufall abhängen.
Zellen sprechen sich ab
Übergänge von Stammzellen in einen neuen Zelltyp steuern neben Transkriptionsfaktoren auch Botenstoffe, die die Zellen miteinander austauschen, wie der Fibroblasten-Wachstumsfaktor 4 (FGF4). Nahmen wir den Zellen die Fähigkeit, FGF4 auszusenden und darüber zu kommunizieren, konnten sie sich trotz hoher GATA-Mengen nicht mehr entsprechend entwickeln. Durch die Zugabe von FGF4 von außen konnten wir zwar erreichen, dass wieder Vorläuferzellen der Fruchtblase entstanden, allerdings war ihr Anteil jetzt nicht mehr immer gleich, sondern änderte sich mit der Konzentration des FGF.
Nimmt man den Stammzellen also ihre Fähigkeit, miteinander durch Wachstumsfaktoren zu kommunizieren, verlieren sie auch ihre Fähigkeit, sich in den richtigen Anteilen auf die beiden Zelltypen aufzuteilen. Außerdem zeigen uns diese Ergebnisse, dass Zellen verschiedene Konzentrationen des Botenstoffes unterscheiden können. Aber wie übersetzen die Zellen diese Information in eine passende Differenzierungsentscheidung?
Morsecode verschlüsselt Informationen
Bevor Botenstoffe wie FGF4 in der Zelle Gene an- und ausschalten, aktivieren sie zunächst ein Netzwerk von Signalproteinen. Es war schon länger bekannt, dass die Verschaltung dieser Signalproteine innerhalb der Zelle interessante zeitliche Muster – oder Dynamiken – erzeugen kann. Je nach Aufbau des Signalproteinnetzwerks kann ein Botenstoff entweder zu einer kontinuierlichen oder nur zu einer kurzfristigen Aktivierung bestimmter Signalproteine führen. Wir vermuteten nun, dass Zellen diese Dynamiken nutzen könnten, um die Information zu verschlüsseln, wieviel Botenstoff sie von außen erhalten. Die Klärung dieser Vermutung erforderte die Echtzeitmessung der Aktivität des Signalnetzwerks in einzelnen, lebenden Zellen. Diese experimentell äußerst anspruchsvolle Aufgabe gelang uns, indem wir einen Fluoreszenzsensor in lebende Stammzellen einschleusten [2].
Damit konnten wir beobachten, dass die ERK-Aktivität alle sechs bis sieben Minuten pulsiert, schneller als ähnliche Signale, die zuvor in anderen Zellsystemen gemessen wurden. Die Pulsmuster waren zwar zwischen verschiedenen Zellen unterschiedlich, in einzelnen Zellen traten die Pulse allerdings oft sehr regelmäßig nacheinander auf, außerdem nahm ihre Anzahl mit steigendem FGF4-Signal stetig zu. Durch den Vergleich mit Computersimulationen konnten wir zeigen, dass sich diese Beobachtungen am ehesten damit erklären lassen, dass das Signalnetzwerk zwischen uhrwerkartigen, rhythmischen Oszillationen und Stille hin- und herwechselt. Diese intermittierenden Oszillationen könnten wie eine Art Morsecode funktionieren, der Informationen über die Konzentration von Botenstoffen überträgt und für die Entwicklung der Zellen verschlüsselt.
Unsere Arbeiten zeigen, dass die Kommunikation auf den unterschiedlichen Ebenen eine Schlüsselfunktion bei der Entscheidungsfindung der Stammzellen hat, in welche Art von Zellen sie sich ausdifferenzieren. Ein besseres Verständnis dieser Prozesse wird uns helfen, zu verstehen, wie sich ein Embryo in einem selbstorganisierten Prozess entwickelt oder warum dieser Prozess nicht selten auch schiefläuft und es zum Abort kommt. Wenn man sich den Entwicklungsprozess von Stammzellen wie einen Baum vorstellt, dann läuft unsere bisherige Forschung eher im unteren Bereich der Krone ab. In Zukunft wollen wir weiter hinaufklettern und die Zellkommunikation in späteren Entwicklungsstadien untersuchen.