Was tun, wenn unsere Abwehr gegen Krebs versagt?
Forschungsbericht (importiert) 2024 - Max-Planck-Institut für molekulare Physiologie

Vor etwa 130 Jahren injizierte der amerikanische Arzt William Coley einem unheilbar kranken Krebspatienten einen tödlichen Bakterien-Cocktail direkt in seinen Tumor. Der Patient bekam hohes Fieber, und wie durch ein Wunder bildete sich der Tumor vollständig zurück. Die Krebs-Immuntherapie - die Nutzung des Immunsystems zur Bekämpfung von Krebs – war geboren.
Freund oder Feind?
Unser Immunsystem bietet uns einen umfassenden Schutz gegen viele fremde Substanzen, Bakterien und Viren. Es erkennt und vernichtet Fremdkörper, gealterte und geschädigte Zellen. Das Arbeitsprinzip ist einfach: Es wird zwischen „eigen“ und „fremd“ also zwischen „gesund“ und „krank“ unterschieden. Diese Aufgabe übernehmen besondere weiße Blutkörperchen, die T-Zellen. Das Immunsystem steht jedoch vor einer ziemlich kniffeligen Aufgabe, wenn es darum geht, Krebszellen zu erkennen - denn sie sind körpereigene Zellen, die normalerweise nicht angegriffen werden sollen. Doch es gibt spezialisierte T-Zellen, die zytotoxischen T-Zellen oder auch T-Killerzellen, die mit feinfühligen Rezeptoren krebstypische Strukturen auf den entarteten Zellen identifizieren und diese anschließend in den Zelltod treiben.
Wie Krebszellen das Immunsystem austricksen
Krebszellen haben eine Reihe von Strategien entwickelt, um den T-Killerzellen und damit unserem Immunsystem zu entkommen. Zum einen können sich die bösartigen Zellen durch die Anpassung der krebstypischen Strukturen auf ihrer Oberfläche als gesunde Zellen tarnen. Zum anderen können sie das Immunsystem durch die Deaktivierung der T-Zellen ausbremsen. Dafür schütten sie bestimmte Signalstoffe wie Prostaglandine oder Stoffwechselprodukte wie Laktat aus, die die T-Zellaktivität drosseln. Krebszellen können die Immunantwort aber auch vollständig ausbremsen, indem sie „Immun-Checkpoints“ auf den T-Zellen aktivieren, die im Normalfall eine überschießende Reaktion des Immunsystems – eine Autoimmunreaktion - verhindern sollen. Moderne Immuntherapien zielen darauf ab, diese Mechanismen auszuhebeln und das Immunsystem wieder anzukurbeln. Letztlich ist der Ausbruch einer Krebserkrankung immer mit einem Versagen des Immunsystems in Verbindung zu bringen.
Tumorschützende „Bremsen“ lösen

Immuntherapien mit Checkpoint-Hemmern gehören heute zu den grundlegenden Instrumenten im Kampf gegen Krebs. Sie lösen gezielt die krebsschützenden „Bremsen“ im Immunsystem und werden bereits zur Behandlung vieler Tumorarten, wie dem schwarzen Hautkrebs, Lungen-, Darm- und Brustkrebs eingesetzt. Leider wirken diese Immuntherapien nur bei einem Teil der Betroffenen und nicht selten entwickeln sich auch Resistenzen. Präklinische Studien haben gezeigt, dass sich die Wirkung von Checkpoint-Hemmern deutlich verbessert, wenn man sie zusammen mit Hemmern des immunmodulierenden Enzyms Indolamin-2,3-Dioxygenase (IDO1) einsetzt.
Während IDO1 im normalen Gewebe kaum vorkommt, liegt es im Tumor in hohen Mengen vor. Dort setzt es die Aminosäure Tryptophan in Kynurenin um, was zahlreiche negative Effekte auf die Immunantwort hat, wie z. B. die Reduktion der Menge und Aktivität der T-Killerzellen (Abb. 1). Aufgrund der vielversprechenden immunregulatorischen Wirkung von IDO1-Hemmern arbeiten zahlreiche Pharmaunternehmen mit Hochdruck an ihrer Entwicklung.
Rückschlag für vielversprechende Krebs-Immuntherapie
Zwischenzeitlich schlug eine weit fortgeschrittene klinische Phase-3-Studie fehl, die den klinischen Nutzen der Kombinationstherapie aus Checkpoint- und IDO-Hemmern an vielen tausend Patienten untersuchte. Das veranlasste viele Pharmaunternehmen dazu, ihre Studien zu IDO-Hemmern zu pausieren oder sogar abzubrechen.
Für die Suche nach neuen Hemmstoffen gegen IDO1 hat unser Team ein neuartiges zellbasiertes Testverfahren entwickelt, das die Aktivität von IDO1 in einer Zellkultur über den Umsatz von Tryptophan in das Stoffwechselprodukt Kynurenin misst [1]. Basierend auf dieser Teststrategie konnten wir aus einer Substanzbibliothek mit über 150.000 chemischen Verbindungen mehrere hochpotente Hemmstoffe mit unterschiedlicher Wirkweise identifizieren, darunter viele direkte IDO1-Hemmer.
IDO1 erhält den zellulären „Todeskuss“
Die Gründe für das Scheitern der Studie sind immer noch nicht vollständig aufgeklärt. Doch vermutlich kann IDO1 auch im gehemmten Zustand, allein durch seine Präsenz, die krebstreibende Wirkung entfalten. Interessanterweise fanden wir heraus, dass viele bekannten IDO1-Hemmer die IDO1-Proteinmenge erhöhen, was den Tumorschutz sogar noch verstärken würde [2]. Die Suche nach alternativen Möglichkeiten, um IDO1 auszuschalten, ist daher absolut notwendig. Wir analysierten weitere Substanzen aus unserem Screen und konnten Wirkstoffe, iDegs genannt, identifizieren, die gezielt IDO1 abbauen. Mit weiteren Versuchen konnten wir die einzigartige Wirkweise der Hemmstoffe aufklären: Binden sie an IDO1, verändert sich die 3D-Struktur des Proteins. Dies bedingt die Markierung von IDO1 mit dem kleinen Protein Ubiquitin, dem zellulären „Todeskuss“, was die zelleigene Müllabfuhr dazu auffordert, IDO1 zu entsorgen.
Eine neue Hoffnung?
iDegs, die von uns entwickelten IDO1-Hemmstoffe, zeigen eine einzigartige Wirkweise: Sie führen zum Abbau von IDO1, was die bisherigen Probleme der alleinigen IDO1-Hemmung lösen könnte. Dieser innovative Ansatz könnte die Entwicklung neuer Strategien zum Stopp der tumorschützenden Aktivität von IDO1 fördern. Und das Potential von IDO1-Hemmern könnte größer sein als bisher gedacht. Neueste Studien lassen vermuten, dass sie auch bei der Bekämpfung von Krebsarten, die durch das Ebstein-Barr-Virus verursacht werden, aber auch von Alzheimer helfen könnten. So ist das Interesse an IDO-Modulatoren trotz der bisherigen Rückschläge weiterhin sehr groß. Zurzeit werden zehn aktive klinische IDO-1 Studien durchgeführt, drei weitere stehen in den Startlöchern.