10. August 2018

Die Spreu vom Weizen trennen in der Wirkstoffforschung

Kleine bioaktive Wirkstoffmoleküle werden in vielen modernen Arzneimitteln eingesetzt, um krankhaft entgleiste Prozesse im Körper zu stoppen. Neue bioaktive Substanzen zu finden, gestaltet sich als schwierig und gleicht der sprichwörtlichen Suche nach der Nadel im Heuhaufen. Ist eine bioaktive Substanz gefunden, geht die Suche aber erst richtig los: nämlich nach den Zielmolekülen in der Zelle. Die Gruppe von Prof. Dr. Dr. h.c. Herbert Waldmann hat nun in Zusammenarbeit mit Prof. Dr. Dieter Steinhilber von der Goethe-Universität in Frankfurt und Prof. Dr. Gisbert Schneider von der ETH Zürich eine neue Such-Strategie entwickelt. Durch die Kombination von Chemischer Proteomik und chemoinformatischen Methoden konnten die Wissenschaftler einen neuen Hemmstoff des Wnt-Signalwegs und sein Zielprotein identifizieren.

In früher Vergangenheit wurden Naturarzneimittel erfolgreich zur Heilung einer Vielzahl von Krankheiten eingesetzt, oft ohne Kenntnisse über die enthaltenen Wirkstoffe und ihre molekularen Zielstrukturen im Körper. Durch die rasante Entwicklung der Organischen Chemie, der Methodik zur Isolierung und des Nachweises von chemischen Substanzen hat sich diese Situation grundlegend verändert. Die meisten modernen Medikamente sind niedermolekulare Moleküle, die chemisch synthetisiert worden sind, aus der Natur kommen oder nach dem Vorbild von Naturstoffen gebaut worden sind. Mittlerweile existieren in den Forschungsinstituten und der pharmazeutischen Industrie Bibliotheken mit mehreren Hunderttausend bis Millionen von Substanzen zur Entwicklung neuer, innovativer Medikamente. Auf der anderen Seite steht eine Bandbreite potentieller molekularer Angriffsziele im Körper. Dazu gehören neben den ca. 20.000 Proteinen auch noch Nucleinsäuren, Kohlenhydrate und Fette. Die Identifizierung eines neuen Wirkstoffes setzt somit eine doppelte Suche voraus: nach dem Wirkstoffmolekül selbst und nach seinem möglichen Angriffsziel.

Sowohl in der Grundlagenforschung als auch in der pharmazeutischen Forschung werden grundsätzlich zwei verschiedene Ansätze zur Identifizierung und Validierung von Wirkstoffmolekülen und ihren Angriffszielen verfolgt. Bei der rückwärts gerichteten chemischen Genetik wird eine Substanz gesucht, die ein bekanntes, krankheitsrelevantes Angriffsziel, meist ein Protein, moduliert. Die Wirkung auf das biologische System, die Zelle oder den Körper, ist in diesem Fall noch unbekannt und muss nachträglich untersucht werden. Bei der vorwärts gerichteten chemischen Genetik hingegen werden Substanzen gesucht, die einen Effekt auf ein biologisches System haben. Mit dieser unvoreingenommenen Herangehensweise werden neben einem gewünschten biologischen Erscheinungsbild auch biologisch aktive Wirkstoffmoleküle aufgedeckt. Auch können neue molekulare Angriffsziele zum Vorschein treten, die aber erst identifiziert und validiert werden müssen. Dabei gibt es bisher keine allgemein anwendbare Strategie. Zur Zeit werden hier drei komplementäre Ansätze verfolgt: die chemische Proteomik, genetische Methoden und chemoinformatische Analysen. Die Gruppe von Prof. Dr. Dr. h.c. Herbert Waldmann hat nun zwei dieser Ansätze kombiniert und somit die Suche nach molekularen Angriffszielen deutlich vereinfacht.

In einem ersten Schritt hat die Gruppe eine Bibliothek von 10.000 chemischen Substanzen auf eine mögliche hemmende Wirkung auf den Wnt-Signalweg durchsucht. Dieser steht im besonderen Fokus der pharmazeutischen Forschung und der Grundlagenforschung, da eine fehlreguliertes Wnt-Signal in Verbindung mit Diabetes, neuronalen und kardiovaskulären Krankheiten sowie der Entstehung von Krebs gebracht wird. Zurzeit durchlaufen zwar einige potentielle Hemmstoffe des Wnt-Signalweges klinische Studien, d.h. sie werden auf ihre Wirksamkeit und Sicherheit überprüft, ein Medikament ist jedoch noch nicht zugelassen worden. Die Nachfrage nach neuen potentiellen Hemmstoffen ist daher besonders hoch. So zeigten sich die Wissenschaftler optimistisch, als sie eine neue Klasse von Hemmstoffe identifizieren konnten. Die Suche nach den zellulären Angriffszielen stellte sich jedoch schnell als kompliziert heraus. Mit Affinitäts-basierter chemischen Proteomik, bei der der potentielle Wirkstoff als Köder eingesetzt wird, konnten zunächst potentielle Zielmoleküle identifiziert werden. Eine Validierung dieser war in weiteren Experimenten aber nicht erfolgreich.

Um weitere zeit- und kostenintensive Folgeversuche zu vermeiden, entwickelten die Wissenschaftler einen neuen Ansatz zur Identifizierung und Validierung zellulärer Angriffsziele, indem sie die chemische Proteomik mit chemoinformatischer Vorhersage komplementierten. Dabei wurden die Eigenschaften des neuen Hemmstoffs, wie z.B. die Struktur, mit den Eigenschaften anderer bereits bekannter Hemmstoffe mit bekannten Zielmolekülen chemoinformatisch verglichen und nach Ähnlichkeiten gesucht. Mit beiden Ansätzen wurden auf diese Weise unterschiedliche Zielmoleküle identifiziert. Eines jedoch tauchte in beiden Listen auf: die Arachidonat-5-Lipoxygenase (5-LO). Dieses Enzym konnte experimentell als Zielprotein bestätigt werden, sodass der neue Hemmstoff den Namen Lipoxygenin erhielt. In weiteren Validierungsexperimenten konnten die Wissenschaftler zeigen, dass Lipoxygenin die Wnt-Signalweiterleitung durch die Hemmung von 5-LO inhibiert. Ebenfalls hemmt Lipoxygenin weitere Signalwege, die durch Activin A, BMP, Hedgehog und TGF- reguliert werden und bei der Zellentwicklung eine wichtige Rolle spielen. 5-LO scheint folglich ein zentraler, gemeinsamer Regulator der Entwicklungssignalwege zu sein.

„Unsere Studie hebt die Effektivität der Kombination von experimentellen und computerbasierten Ansätze bei der Identifizierung und Validierung von Zielmolekülen hervor. Dieser neue Ansatz könnte dabei helfen, nachhaltiger mit wichtigen Ressourcen in der Grundlagen- und der Pharmazeutischen Forschung umzugehen“ erklärt Dr. Slava Ziegler, Co-Autorin und Projektgruppenleiterin in der Abteilung Chemische Biologe von Prof. Dr. Dr. h.c. Herbert Waldmann.

JJ/SZ

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