"Widersprüche sind am interessantesten“
Herr Professor Bastiaens, die Biologie ist die Lehre vom Leben – und sie hat in den vergangenen Jahrzehnten rasante Fortschritte gemacht. Mit der Weiterentwicklung der Untersuchungsmethoden ist sie immer tiefer in den Nanokosmos der Zellen vorgedrungen. Werden Biologen bald herausfinden, was „Leben“ eigentlich genau ist?
Bastiaens: Ich glaube nicht, dass das der Biologie allein gelingen wird. Auf den ersten Blick scheint die Frage „Was ist Leben?“ zwar eine klassische Domäne der Biologie zu sein. Aber die Kultur der Biologie ist traditionell beobachtend: Man betrachtet Dinge, also Tiere, Pflanzen, Zellen, Zellorganellen, Proteine oder die Erbsubstanz DNA und schildert, was man sieht. Und natürlich wissen wir heute, dass die DNA die Bauanleitungen für alle Proteine des jeweiligen Organismus’ enthält. Aber das, was Leben ausmacht, ist etwas anderes.
Was ist es dann?
Leben besteht fast nur aus Prozessen. Natürlich hängt Leben auch von Materie ab. Genauer gesagt ist Leben ein spezieller Zustand von Materie – Materie, die Energie braucht, um sich selbst aufrecht zu erhalten und um sich selbst zu reproduzieren. Die sich selbst organisiert und reguliert. Lebewesen sind zudem fähig, chemische und physikalische Änderungen in ihrer Umgebung zu registrieren. Sie können also bestimmte Reize wahrnehmen und Informationen verarbeiten. Um diese Prozesse aufzuklären und zu verstehen, reicht die Biologie nicht aus. Dazu braucht man noch andere Disziplinen.
An welche anderen Disziplinen denken Sie?
An Physik, aber auch an Wirtschaft – und an Mathematik. Tatsächlich war es ein britischer Mathematiker, der schon in den 1950er Jahren richtungsweisende Theorien und Modelle zur Beschreibung der Struktur und der Dynamik lebender Systeme erarbeitet und damit Pionierarbeit auf diesem Gebiet geleistet hat, und zwar Alan Turing.
Alan Turing? Sie meinen den Mann, der während des Zweiten Weltkriegs maßgeblich zur Entzifferung der mit der Enigma-Maschine verschlüsselten deutschen Funksprüche beigetragen hat und dessen tragische Geschichte unter anderem in dem Kino-Film „The Imitation Game“ erzählt wurde?
Ja, dieser Alan Turing. Die meisten Menschen kennen nur den Teil seines Lebens, der verfilmt wurde. Aber Turing war ein vielseitiges Genie. Er hat nicht nur die Enigma geknackt und einen großen Teil der theoretischen Grundlagen für die moderne Informations- und Computertechnologie geschaffen. Er hat sich auch intensiv mit den chemischen und physikalischen Gesetzmäßigkeiten hinter zentralen Prozessen in der Biologie beschäftigt. Sein 1952 veröffentlichter Artikel mit dem Titel „The Chemical Basis of Morphogenesis“ war ein Meilenstein und ist noch heute für unsere Arbeit wichtig. [1]
Worum geht es – kurz gefasst – in diesem Artikel?
Turing hat darin erstmals einen Mechanismus beschrieben, wie so genannte Reaktions-Diffusions-Systeme spontan räumliche Muster hervorbringen können und wie damit aus einer einzigen befruchteten Zelle ein ganzer Organismus entstehen kann. Dieser als Turing-Mechanismus bezeichnete Prozess bildet noch heute die Grundlage vieler chemisch-biologischer Strukturbildungstheorien.
Welche Schlüsse folgen daraus für heutige Forscher?
Mehrere. Heute ist zum Beispiel klar, dass einige Theorien in der Biologie, die man in den vergangenen Jahrzehnten für richtig gehalten hat, falsch sind. Etwa die Vorstellung, dass ein bestimmter äußerer Reiz in einer bestimmten Art von Zelle immer denselben Effekt hat. Inzwischen weiß man, dass dieses Modell viel zu stark vereinfacht ist. In Wirklichkeit kann ein Signal in ein und derselben Art von Zelle ganz verschiedene Dinge bewirken. Welche das sind, hängt davon ab, in welchem inneren Zustand sich die Zelle gerade befindet und welche Vorgänge vorher in ihr stattgefunden haben. Ähnliches gilt für einzelne Proteine. Was ein Protein in einer Zelle macht, hängt maßgeblich vom Kontext ab, also davon, welches Milieu in der Zelle herrscht und von welchen Molekülen dieses Protein umgeben ist.
Warum ist es so wichtig, diese Zusammenhänge zu kennen?
Nehmen Sie die Krebsforschung. Seit vielen Jahren wissen wir, dass bösartige Tumore durch Mutationen in bestimmten Genen entstehen. Eines der häufigsten, so weiß man ebenfalls seit langem, ist das so genannte Ras-Gen. Es ist in etwa jedem dritten Tumor verändert. Das zugehörige veränderte Protein sorgt dafür, dass die Zelle ständig das Signal erhält, sich teilen zu müssen. Was also läge näher, als einen Wirkstoff zu entwickeln, der genau auf dieses Krebsprotein abzielt und dessen Aktivität unterbindet? Nun – tatsächlich hat man das jahrzehntelang versucht, allerdings ohne jeden Erfolg. Daran zeigt sich: Wenn wir Tumoren erfolgreich behandeln können wollen, müssen wir ganz andere Strategien entwickeln. Eines unserer Ziele ist es daher, bestimmte Knotenpunkte in der molekularen Steuerung der Zellen zu finden. Wenn man dort eingreift, so vermuten wir, sind die Chancen gut, dass man auch große Effekte erzielt.
Aber wie schafft man es, solche Wechselwirkungen in lebenden Zellen zu analysieren und die zugrunde liegenden Regelwerke aufzudecken?
Das ist in der Tat nicht ganz einfach. Aber wir sind aus zwei Gründen in einer guten Situation. Zum einen bietet die Max-Planck-Gesellschaft uns Forschern hervorragende Bedingungen. Wir haben große Freiheit bei der Auswahl und Gestaltung unserer Projekte und hier in Dortmund haben wir die Möglichkeit, mit den besten Techniken zu arbeiten, die es gibt. Zum Beispiel mit speziellen Fluoreszenzmikroskopen, die es uns neuerdings sogar erlauben, einzelne Moleküle in lebenden Zellen genau zu lokalisieren und deren Aktivität, Bewegung und Wechselwirkungen zu messen. Mindestens ebenso wichtig aber ist eine neue Art zu denken.
Was meinen Sie damit?
Ich glaube, wir müssen eine neue Generation von Naturwissenschaftlern generieren. Forscher, die sich nicht nur für ihr eigenes Fachgebiet interessieren, sondern auch für andere, fremde Disziplinen wie zum Beispiel Wirtschaft. Davon kann man viel lernen. Unternehmen zum Beispiel sind in gewisser Weise auch Systeme, die sich wie jeder lebende Organismus selbst instand halten. Richtig gute Forschung zu machen ist aber auch eine Frage der inneren Einstellung und der Geisteshaltung. Wissenschaft lebt davon, dass man immer wieder Hypothesen aufstellt und mit Hilfe von Experimenten überprüft, ob diese These stimmt. Das ist ein ständiger Prozess der Rekursion, also ein Wechselspiel von Fragen und Antworten. Den muss man auch aushalten können. Denn oft liefern Experimente auch widersprüchliche Ergebnisse. Das ist der Punkt, an dem viele Leute aufgeben. Dabei wird es da gerade spannend.
[1] The Chemical Basis of Morphogenesis. In: Philosophical Transactions of the Royal Society of London, series B. Band 237, Nr. 641, 1952, S. 37–72, :doi: 10.1098/rstb.1952.0012