3. Oktober 2018

Natur 2.0 – Pseudonaturstoffe als Basis für neue Medikamente

Fast ein Drittel der heutigen Arzneimittel leitet sich von Naturstoffen ab. Die Entwicklung von neuen Naturstoff-inspirierten Wirkstoffen ist jedoch sehr aufwendig und chemisch limitiert. Die Gruppe von Prof. Dr. Dr. h.c. Waldmann am Max-Planck-Institut für molekulare Physiologie hat die vorhandenen Grenzen überwunden und sogenannte Pseudonaturstoffe entwickelt: Biologisch aktive Substanzen mit neuartigen chemischen Grundgerüsten, die aus Bausteinen von Naturstoffen bestehen, aber keine sind.

03 Oktober 2018

Die Evolution hat eine Vielzahl von hocheffektiven biologisch aktiven Substanzen hervorgebracht. Ob Pflanzen, Tiere, Bakterien oder Pilze – jeder Organismus verfügt über ein Arsenal an Stoffen, die lebenswichtige Aufgaben erfüllen. Und zwar meist, indem sie an ein bestimmtes Protein binden und dessen Aktivität beeinflussen. Viele dieser Stoffe wirken nicht nur auf ihr eigentliches Ziel in den genannten Organismen, sondern auch in menschlichen Zellen. Bekannte Beispiele dafür sind die Pflanzenstoffe Salicylsäure (Aspirin), Morphin und Digitalis, aus denen hochwirksame Medikamente gegen Schmerzen beziehungsweise Herzkrankheiten hervorgegangen sind. So werden in der Natur vorkommende Substanzen in der Arzneimittelforschung schon lange als Inspiration für die Entwicklung neuer Wirkstoffe genutzt. Allerdings sind die Anzahl und Vielfalt der Natursubstanzen jedoch begrenzt, was die Möglichkeiten der naturstoffinspirierten Medikamentenentwicklung deutlich einschränkt. Es gibt über 22 Millionen kommerziell erhältliche, chemisch synthetisierte Substanzen und schier unbegrenzte Kombinationsmöglichkeiten für die Synthese weiterer Moleküle. Dem gegenüber stehen allerdings nur ca. 190.000 Naturstoffe, deren Nachbau aufgrund ihrer komplexen Struktur schwierig und oft nicht effizient ist.

Am Max-Planck-Institut für molekulare Physiologie hat die Forschungsgruppe um Direktor Prof. Dr. Dr. h.c. Herbert Waldmann nun eine völlig neue Strategie entwickelt, um diese Limitierung zu überwinden. Dazu werden Naturstoffe mit bekannten Eigenschaften zunächst in kleine Fragmente zerlegt. Mit einer komplexen Reaktionskaskade gelang es dem Forscherteam erstmals, diese Bausteine zusammenzufügen. Durch diese de novo Kombination wurden neue chemische Grundgerüste komponiert, die zwar von Naturstoffen mit spezifischen Wirkspektren abgeleitet sind, so aber in der Natur nicht vorkommen.

Nach diesem Prinzip haben Waldmann und sein Team eine neue Klasse von Pseudonaturstoffen entwickelt, die Chromopynone, die in Krebszellen lebenswichtige Glukosetransporter blockieren und die Zellen somit aushungern. Die Chromopynone wurden aus zwei Fragmenten entwickelt, die im Grundgerüst von unterschiedlichen Naturstoffen mit antibakteriellen und tumorreduzierenden Eigenschaften vorkommen. In Kontrollversuchen bewirkten weder die Ausgangssubstanzen, noch weitere Moleküle, die einzelne Fragmente der Chromopynone enthielten, eine Störung der Glukoseaufnahme in Krebszellen.

Durch die Erschließung eines vollkommen neuen chemischen Raums ermöglicht diese zukunftsweisende Strategie nicht nur die Entwicklung, sondern auch die effiziente Synthese neuer Klassen von Naturstoff-inspirierten Wirkstoffmolekülen mit bisher nicht bekannten biologischen Aktivitäten. Die methodenimmanenten Kombinationsmöglichkeiten erweitern das begrenzte Spektrum verfügbarer Naturstoffe erheblich. Nicht zuletzt kann der Befund, dass Pseudonaturstoffe den Stoffwechsel und damit das Wachstum von Tumorzellen nachhaltig beeinflussen, als eine wegweisende Inspiration für die Entwicklung innovativer Medikamente dienen.

JJ/PH

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